Die bittersten Leiden
Mel Gibsons "Die Passion Christi"
Von Reinhold Zwick
Wohl kaum ein Jesus-Film hat im Vorfeld bereits solche Wellen geschlagen. Die einen befürchteten eine antisemitische Schlagseite, andere die ungebremste Darstellung von Gewalt. Seit Mitte März ist Mel Gibsons Evangelienverfilmung "Die Passion Christi" jetzt auch in Deutschland zu sehen.
In Denys Arcands "Jesus von Montreal" (1989) erhält der junge Schauspieler Daniel Coulombe den Auftrag, ein in die Jahre gekommenes Passionsspiel zu "entstauben", da der Text "ein wenig überholt" sei. Was Daniel in einem Videomitschnitt der aus vorkonziliaren Zeiten stammenden Inszenierung zu sehen bekommt, ist ein blutleeres Deklamieren von geschraubten Versatzstücken einer überkommenen Sühneopfer-Theologie, und es verwundert nicht, dass seine Truppe diesen Text später bei einer ihr abgezwungenen Leseprobe kräftig parodiert. Wie in einer Kampfansage an den aufgeklärten Geist Arcands sucht Mel Gibson mit seiner "Passion Christi" jetzt neuerlich die Heilsbedeutung der Menschwerdung Jesu allein in seiner Leidensgeschichte (vgl. HK, September 2003, 438).
Es konzentriert sich alles auf den Leidensleib
Dass das Nachdenken über den Tod Jesu zumindest nicht unter Absehung von
seiner gesamten Wirksamkeit in Wort und Tat geschehen kann, mahnt die Theologie
seit Jahrzehnten an, soweit sie nicht überhaupt auf Distanz zu dem in den
ältesten Schichten der Evangelientradition noch kaum signifikanten Sühnekonzept
gegangen ist. Der Stand der theologischen Diskussion ficht Gibson
freilich nicht im Geringsten an, er hat ihn sicher nicht auch nur in gröbsten
Umrissen zur Kenntnis genommen, obgleich beispielsweise die Katholische
Bischofskonferenz in den Vereinigten Staaten schon 1988 in einem wichtigen
Papier über "Kriterien zur Beurteilung von Dramatisierungen der Passion"
(www.nccbuscc.org) bei einem solchen Unternehmen nachdrücklich die höchste
theologische Sorgfalt eingefordert hatte.
Und auch von der Gottesherrschaft,
der Mitte von Jesu Verkündigung, spricht sein Menschensohn kein einziges Mal.
Sie kommt auch der Sache nach nicht vor, da sämtliche kurzen Rückblenden allein
auf das Passionsgeschehen hingeordnet sind - als typologische Vorausbilder (wie
die "apokryphe" Szene vom Stürzen des Jesusknaben) oder als theologische
Programm-Szenen. Es ist insbesondere die in viele kurze Bilder fragmentierte
Erinnerung an die Einsetzungsworte und die Abschiedsreden, die das "reale"
Brechen des Leibes Jesu als eine Art mitlaufender Kommentarebene begleiten und
den Sinn des Leidens verdeutlichen sollen.
Mit dem Ausfall der Botschaft von
der Gottesherrschaft bricht bei Gibson auch die gesellschaftlich-politische
Dimension von Jesu Wirken weg und konzentriert sich alles auf den Leidensleib,
der all den Schergen geduldig ausgeliefert wird, damit sie an ihm - ohne dass
ihnen das selbst bewusst wäre - das für das Sühnegeschehen nötige grausame
Handwerk vollziehen. Hier fällt Gibson nicht nur weit hinter Pier Paolo
Pasolinis proto-befreiungstheologische Filmbearbeitung "Das Erste Evangelium –
Matthäus" (1964) zurück, mit der er am Ende nur mehr den süditalienischen
Drehort Matera gemein hat. Hier war selbst Oberammergau schon um vieles weiter,
indem die jüngste Inszenierung durch die Transposition vieler Logien Jesu aus
seiner vor-jerusalemer Zeit in die Auseinandersetzungen im Tempel auch das
gesellschaftskritische Potenzial seiner Botschaft profilierte und mit Verve den
"Rabbi" und "Propheten" Jesus zur Geltung brachte (vgl. HK, Juli 2000,
357ff.).
Mit seiner Blickverengung auf den Schmerzensmann und die finalen Stunden des
Leidens schließt Gibsons Film an eine frühere Entwicklungsstufe der
Passionsspiele an, ja radikalisiert selbst sie noch dahingehend, dass er
unmittelbar mit Jesu Gebetskampf in Getsemani einsetzt und vom üblichen
"starken" Auftakt mit Einzug und Tempelaktion nur einige elliptische
Rück-blen-den übrig lässt: karge, subjektive Blicke Jesu über den Kopf, besser:
durch die langen Ohren seines Reittiers.
Der Geist von Gibsons Inszenierung
ist derselbe wie der des überholungsbedürftigen Passions-spiels auf den Hügeln
über Montreal. Nur dass jetzt das Skript, in dem so viel vom Blut die Rede ist,
auch so blutig wie möglich inszeniert ist - in einem geradezu "barocken
Blutrausch", wie Regiekollege Franco Zeffirelli wohl mit Blick auf die
mit so genannten Gräuel-szenen gesättigten Märtyrerdramen kritisiert hat. Alter
Wein also, aber in den neuen Schläuchen des Gewalt-, Horror- und Splatter-Kinos
(splatter = Blut verspritzen) und "veredelt" durch Applikationen aus dem Fundus
der klassischen christlichen Passions-Ikonographie. So werden die letzten
Stunden Jesu zu einer einzigen Reise durch die Höllenkreise des Schmerzes, des
Blutes und des Drecks - und rot und braun sind denn auch die dominanten Farben.
Die kurzen Rückblenden und Seitenblicke, die den Malstrom des Grauens
perforieren, lassen weniger durchatmen, als dass sie als kleine "Auszeiten" die
Intensität des Horrors neu befeuern.
Das Kino ist an Grausamkeiten ja fürwahr
nicht arm und war hier immer besonders erfinderisch, aber selten noch, wenn
überhaupt jemals, hat man fast zwei Stunden lang der systematischen Zerstörung,
genauer und wortwörtlich: Zerfleischung eines auserwählten Opfers zusehen
können (oder müssen!), bis dessen Leib am Ende nur mehr eine einzige offene
Wunde scheint und es bis dahin soviel Blut vergossen hat, dass es eigentlich
schon hätte mehrere Tode sterben müssen.
Heilung in der Schau der Wunden?
Offensichtlich will Gibson durch das Quantum des Leidens und die Drastik, mit
der er die Wunden zeigt, die ihnen in (Teilen) der Schrift zugesprochene
erlösende Kraft beglaubigen. Er setzt auf ein Überspringen des "Verismus der
Schmerzen" auf die Zustimmung zu einer Wahrheit, die nur im Glauben angenommen
werden kann. "Wegen unserer Sünden wurde er zermalmt. / Zu unserem Heil lag
Strafe auf ihm, / durch seine Wunden sind wir geheilt." (Jes 53,5) Das dem Film
als Motto vorangestellte Wort vom leidenden Gottesknecht, das zweifelsohne die
neutestament-liche Theologie nachhaltig beeinflusst hat, wird Gibson auch
ästhetisch zum Programm.
Er hält deshalb so unerbittlich und "hautnah" auf
das Leiden, weil er die Zuschauer förmlich in die Wunden und Schmerzen mit
hineinnehmen möchte, bis dahin, dass er den Betrachter wiederholt sogar -
christologisch waghalsig - mittels subjektiver Kamera mit der Wahrnehmung Jesu
zu assoziieren sucht, um so im Nacherleben der Qualen zumindest anfanghaft auch
ihrer "heilenden" Kraft teilhaftig werden zu lassen. Ganz in diesem Sinne meinte
Gibson in einem Interview über den aus einer tiefen persönlichen Krise geborenen
Impuls zu diesem Projekt: "Ich entdeckte, dass ich die Wunden Christi und seine
Leiden betrachten muss, damit die Wunden in meinem Leben heilen" (Der
Tagesspiegel, 17.02.2004).
Wegen der erhofften Heilungs- und Glaubens-Wirkungen sind auch die
evangelikalen Gruppierungen in den Vereinigten Staaten und andernorts in
so breiter Front Gibson beigesprungen. Sie haben in der neuen Passion einen
ungleich eindrucksstärkeren Nachfolger für ihren bisherigen "Klassiker"
entdeckt: für die unter dem schlichten Titel "Jesus" verbreitete Bebilderung des
Lukasevangeliums, die 1979 unter der Regie von Peter Sykes und John
Kirsh im Rahmen des biblizistischen "Genesis-Projekts" entstanden ist und
besonders auf Video und DVD eine immense Verbreitung erzielt hat. Bereits diese
Produktion wurde stets als "der authentischste Jesusfilm aller Zeiten" beworben
- einen Rang, den ihr jetzt Gibson ablaufen will.
Die Zeiten haben sich
gewandelt. Setzten Sykes/Kirsh vor dem Hintergrund der nachklingenden
Jesus-People-Bewegung auf Rührung und die "Heimeligkeit" klischeehafter
Devotionalienbilder, da vertraut Gibson in seiner Fokussierung auf die "Wunde"
und getreu seiner Herkunft vom permanent an der Gewaltspirale drehenden
Action-Kino auf die Erschütterung und die Wucht so noch nie gesehener
Schreckensbilder - jedenfalls sicher noch nie gesehen vom Gros der Menschen, die
in Amerika ganze Sondervorstellungen aufkaufen, und auch noch nie von denen, die
hierzulande das Gros der Kirchgänger stellen. Ihre Wirkung auf die Psyche und
das religiöse Empfinden mag man sich gar nicht ausmalen - geschweige denn die
Wirkung auf religiös suchende oder distanzierte Menschen.
Fortschreibung von Anna Katharina Emmerick und Clemens Brentano
Die unmittelbare Vorlage für diese Zuspitzung ist allerdings wieder ein alter
Text: die Leidensmystik von Anna Katharina Emmerick (1774-1824), wie sie
ihr Clemens Brentano am Krankenlager abgelauscht und später mit einem
großen literarischen Eigenanteil und unter breiter Aufnahme älterer geistlicher
Literatur in dem Buch "Das bittere Leiden unseres Herrn Jesus Christus", einem
Hauptwerk der katholischen Spätromantik, niedergelegt hat (erschienen zuerst in
Regensburg-Stadtamhof 1833). Und über dieses Buch vermittelt sich in Gibsons
Film eine lange und mit großen Namen (wie Franziskus oder Ignatius) verbundene
Tradition der Passions- und Kreuzesfrömmigkeit, die die Wunden Jesu meditiert.
Wer mit dieser Tradition noch vertraut oder wenigstens in Fühlung ist, wird
vielleicht mit Gibsons Projekt etwas weniger Schwierigkeiten haben.
Während
"Das Bittere Leiden" hierzulande kaum mehr gelesen wird, erfreut es sich gerade
in evangelikalen Kreisen in den USA einer sehr hohen Bekanntheit und
Wertschätzung. So verwundert es auch nicht, dass Mel Gibson, der seit geraumer
Zeit einer vorkonziliar orientierten Gruppe katholischer Traditionalisten
angehört und diese kräftig finanziell unterstützt, auf Emmerick aufmerksam
werden konnte.
In einem Interview mit dem Schriftsteller Patrick Roth anlässlich des Kinostarts von "Signs" (2002), in dem er die Hauptrolle, einen Priester, spielt, erinnert sich der Regisseur an die Impulse für eine neuerliche Beschäftigung mit dem Glauben: "Es waren ältere Schriften. Ich erinnere mich nicht mehr an die genauen Titel. Eines stammte von einem Deutschen. Aus dem 18. Jahrhundert, glaube ich. Da ging es um diese Frau - eine Nonne, glaube ich -, deren Visionen einem Dichter diktiert wurden. Eine Mystikerin, deren Visionen er beschrieb. Das Buch war ungeheuer reich an Details." (Süddeutsche Zeitung, 12.09.2002) Konkret benannt und als die neben den Evangelien maßgebliche Inspirationsquelle herausgestellt wurde das "Bittere Leiden" dann schon in den frühesten Communiqués über das "Passion"-Projekt. Erstaunlich dann, dass Emme-ricks Name in den Credits im Abspann fehlt, um so mehr, als der Film tatsächlich außer-ordent-lich viel dem Geist und den "reichen Details" des "Bitteren Leidens" verdankt.
Gibson folgt Brentanos ungemein visueller, ja geradezu "filmischer"
Inszenierung der "Gesich-te" Emmericks oft bis in die Einzelheiten, angefangen
mit der Getsemani-Szene, wenn ein Strahl des Mondlichts wie ein "himmlisches"
Spotlight Jesus umfließt, über die Architektur der Paläste des Kaiphas und
Pilatus bis hinein in "apokryphe" Konkretionen der Grausamkeiten: etwa, wenn
Jesus auf dem Weg zum Hohenpriester über eine Brücke gestürzt wird und kurz vor
dem Aufprall hart mit den Ketten, die ihn fesseln, abgefangen wird; oder auch
wenn die Geißelung vorgestellt wird als sich in Stufen steigernde, systematisch
die gesamte Körperoberfläche zerarbeitende Barbarei. Auch einzelne Einstellungen
wie Gibsons Andachtsbilder mit den Marterwerkzeugen haben Vorbilder im "Bitteren
Leiden" (und der älteren Leidensmystik).
Vor allem aber sind von diesem Buch
etliche der Szenen inspiriert, über deren Herkunft und Bedeutung viele Zuschauer
rätseln: beispielsweise dass Claudia, die Frau des Pilatus, der Mutter Jesu und
Magdalena am Rande der Geißelung reine Tücher bringt, die diese anschließend
benutzen, um die großen Blutlachen in peinlichster Sorgfalt aufzuwischen -
vielleicht gedacht als Vorausbild auf die Reinigung des eucharistischen Kelches
von den Tropfen des konsekrierten Weines. Wie Gibsons "Passion" beginnt auch
"Das Bittere Leiden" mit einer abermaligen Versuchung Jesu durch den Satan, der
ihm die Sündenlast als zu groß, um sie zu tragen, vorstellt. Auch die
Ausgestaltung der folgenden Handlung bis zur Anklage vor Pilatus zu einem von
brutalen Misshandlungen und Demütigungen Jesu strotzenden "ersten" Kreuzweg
schließt dicht an Brentano an. Man kann mit Fug und Recht sagen, Gibsons Arbeit
sei auf weite Strecken eher eine Verfilmung von Emmerick/Brentano als der
Evangelien.
Falsches Pathos der Authentizität
Wegen der großen Nähe der "Passion Christi" zum "Bitteren Leiden" sind die
Differenzen umso bemerkenswerter. Zwar fließt auch das Buch in manchen Passagen
förmlich über von Gewalt, doch wird diese eher im Stil einer Chronik
registriert, als dass sie in ihren grausamen Details effekthascherisch ausgemalt
würde. Von der letzten Stufe der Geißelung, der schrecklich-sten Sequenz des
Films, lesen wir im Buch, dass an den Spitzen der Marterwerk-zeuge "eiserne
Haken hingen" und die Schergen Jesus "damit ganze Stücke Fleisch und Haut von
den Rippen rissen." Mit dem Seufzer "O wer kann den elenden greulichen Anblick
beschreiben!" blendet Brentano hier sogleich ab, doch Gibsons Kamera hält drauf
und schildert diese ultimativen Qualen unter Aufbietung aller
maskenbildnerischen Kunst und emotionalisierenden Schnitt-Technik im visuellen
und akustischen Detail.
In Sachen Gewalt überbietet aber bereits Brentano die
Evangelien um ein Vielfaches. Denn diesen ist jeder Leidensrealismus fremd. Die
Extreme des Leidens wie auch der Herrlichkeit (etwa in Verklärung oder
Auferstehung) bleiben in ihnen durchwegs große, bestenfalls in ihren groben
Koordinaten gespurte Unbestimmtheitsstellen. Als solche lassen sie den
Rezipienten erhebliche Freiräume, sie mit den ihnen fasslichen Vorstellungen zu
bespielen.
Im Bibelfilm ging es ja oft sehr drastisch zur Sache, war er doch in Zeiten
der strengen Zensur ein bevorzugtes Refugium für die vorgeblich durch das
"heilige" Sujet gedeckte Zurschau-stellung von Sex und Gewalt. Verglichen mit
Martin Scorseses gewiss nicht zimperlicher "Die letzte Versuchung Christi"
(1988), der letzten großen historisierenden Inszenierung der Jesusgeschichte,
dreht Gibson die Eros-Schraube auf Null zurück, die der Gewalt hingegen auf
vollen Anschlag und setzt eine neue Grenzmarke im "Körperkino", einem Kino, das
die Zuschauer geradezu leibhaftig packen will.
Während Scorsese aber seinen
Film mit einem Insert eröffnet, dass es sich bei ihm um die Verfilmung eines
Romans und eben nicht der Evangelien handelt, hat sich Gibson von Anfang an die
maximale Authentizität aufs Panier geschrieben und von daher auch die
Drastik der Gewalt-darstellung zu rechtfertigen gesucht. Natürlich kann man wie
Gibson die Dialoge der Evangelien ins Aramäische und Lateinische (besser wäre
Koine-Griechisch gewesen) rückübersetzen. Aber hat man damit mehr in Sachen
"Authentizität" gewonnen, als nur ein ungewöhnliches Klangbild?
Und natürlich
kann man sich, wie es schon Scorsese tat, in Sachen Ausstattung und
Hinrichtungs-"Technik" historisch kundig machen. Aber das Resultat bleibt
nichtsdestoweniger inszenierte Geschichte. Das wird dann bedenklich, wenn
das Inszeniertsein und damit der subjektive Anteil geleugnet werden, indem
Gibson Kritik an ihm regelmäßig mit der Bemerkung abweist, sie treffe ja gar
nicht ihn, sondern die Evangelien (deren Verfasser er im Übrigen für Augenzeugen
hält). In der behaupteten maximalen Authentizität zeigt sich dabei regelmäßig
das immer gleich eklatante Missverhältnis von durchaus respektabler
"landeskundlicher" Informiertheit und völliger exegetischer Ignoranz. Allein an
diesem fatalen Widerspruch muss Gibsons Film scheitern.
Die Schurken im Hohen Rat
Sieht man Gibsons "Passion Christi", könnte man meinen, es habe nie eine
wissenschaftliche Exegese gegeben - weder eine historisch-kritische "Rückfrage
nach Jesus" noch eine Arbeit unter irgendwelchen anderen methodologischen
Vorzeichen. Geradezu voller Stolz wird das Epos im Presseheft als
"Evangelienharmonie" präsentiert. Ganz in alter, besser: mittelalterlicher
Manier mixt Gibson ungeniert die Überlieferungen, addiert, glättet oder
akzentuiert - immer unter dem Vorzeichen der traditionellen Bevorzugung des
Johannesevangeliums.
Mit dem vierten Evangelium, dessen Passionshandlung sich
wohl auch als die liturgisch vertrauteste und materialreichste empfohlen hat,
tritt natürlich zugleich diejenige Fassung der Passion in den Vordergrund, die -
wider den historischen Befund - "die Juden" am stärksten mit der Schuld
am Tode Jesu behaftet und das Pilatusbild am kräftigsten schönt. Der angeblich
auf Authentizität versessene Gibson tut nichts, um hier moderierend
einzugreifen, sondern intensiviert diese disproportionale Schuldverteilung noch
weiter. Gerade die Zeichnung des Prokurators war noch immer ein Testfall darauf,
wie ernst es einer Evangelien-Dramatisierung mit der Historie ist und ob sie der
jüdischen Seite einigermaßen Gerechtigkeit widerfahren lassen will.
Mit der
Vorstellung des Pilatus als zwielichtige, lavierende und tendenziell
negative Figur waren hier Emmerick/Brentano dem "wirklichen", wegen seiner
Rücksichtslosigkeit sogar aus Judäa abberufenen Pilatus um einiges näher als
Gibson, der ihn wieder einmal ganz als Opfer jüdischer Erpressung erscheinen
lässt. Unter dem Druck der Hohenpriester, die ihn in der Hand haben, muss er
trotz aller Rettungsbemühungen, zu denen ihn auch seine bereits christusgläubige
Frau Claudia anfeuert, kapitulieren. Konsequenterweise haben bei Gibson die
Römer keinerlei Interesse oder gar Anteil an Jesu Gefangennahme.
Sie erfolgt
allein auf Betreiben des Hohen Rats unter seinen beiden Vorsitzenden Annas
und Kaiphas, die entsprechend der Passionsspieltradition immer in enger
Wirkeinheit auftreten. Gibson lässt sie wie die gnadenlosen Despoten eines
Schurkenstaats agieren. Mögen die römischen Schergen noch so wüten: die
Drahtzieher und "wahren" Verantwortlichen für Jesu Tod sind hier eindeutig die
jüdischen Ratsherrn. Die zwei, drei kritischen Einwendungen aus ihren Reihen
gegen die Prozessführung, die Gibson zulässt, reichen nicht annähernd hin, um
eine Pro-Jesus-Fraktion im Rat zu profilieren.
Berücksichtigt man neben der Diskussionslage innerhalb der christlichen
Exegese, die die Mitverantwortung der Jerusalemer Tempelaristokra-tie am Tod
Jesu aus dem zeitgeschichtlichen Kontext zu verstehen sucht, auch das
allenthalben zu beobachtende Auflodern eines neuen Antisemitismus, kommt
man kaum umhin, die Sorgen jüdischer Interessensverbände wie der
"Anti-Defamation League" (ADL) oder des "American Jewish Comittee" zu teilen:
die Sorge, dass Gibsons Film - so ADL-Präsident Abraham Foxman - geeignet
ist, "antisemitische Gefühle zu wecken oder zu bestärken" oder dementsprechend
instrumentalisiert zu werden. Das ist natürlich etwas anderes, als Gibson eine
bewusste antisemitische Hetzkampagne vorzuwerfen, wogegen er sich häufig meint
verteidigen zu müssen, und auch etwas anderes, als ihn wegen der unerträglichen
anti-jüdischen Äußerungen und der Holocaust-Leugnung seines Vaters in Sippenhaft
zu nehmen. Aber vom Vorwurf eines zumindest "fahrlässigen" Antijudaismus kann
man den Sohn kaum entlasten.
Gibson macht es sich viel zu leicht, wenn er
sich mit dem Hinweis auf judenkritische Züge in den Evangelien über alle
Vorwürfe erhaben fühlt. Denn weder versucht er, die einschlägigen biblischen
Traditionen kritisch reflektiert zu bearbeiten, wie es sein
Authentizitäts-Pathos eigentlich verlangen würde, seine biblizistische Naivität
aber verhindert, noch bringt er gegenläufige Tendenzen in den Evangelien auch
nur ansatzhaft zur Geltung.
Noch bedenklicher ist, dass er gerade die Züge
der Evangelien, die bei oberflächlicher Lektüre des Antijudaismus verdächtigt
werden können, noch durch ein ganzes Bündel von teils subtilen, teils plakativen
Verleumdungen der jüdischen Seite ausbaut - Verleumdungen visueller und
narrativer Natur, die entweder keinerlei biblischen Haftpunkt haben oder aber
vorhandene Motive völlig unproportional verzerren. Das beginnt bereits mit der
Physiognomie von Annas und Kaiphas: Hat der eine ein wie von Hass und vom Bösen
zerfurchtes Gesicht, so entblößt der andere gleich bei seinen ersten Worten ein
auffällig schlechtes Gebiss. Die den Gesichtern eingeschriebene Herzenshärte
erhält denn auch genügend Raum, sich kräftig auszuagieren.
Ungerührt haben die Tempelherren (gegen das biblische Zeugnis) lange Zeit der
entsetzlichen Geißelung zugesehen und voll des Hasses und Spottes tritt Kaiphas
noch an den zur Ungestalt zerschundenen Gekreuzigten heran und verhöhnt ihn.
Dass gelegentlich, etwa bei der Geißelung, der Satan in androgyn-weiblicher
Gestalt durch die Reihen der Ratsherren wandelt, mag - wie bei
Emmerick/Bren-tano - in heilsgeschichtlicher Perspektive als Entlastung der
Juden gedacht sein, erschließt sich aber so nur gläubigen Christen und ändert im
Kontext des Films nichts an der denunzierenden Optik. Und wenn sich manche im
Hohen Rat angesichts der Begleitwunder beim Tod Jesu - sie dürfen in Gibsons
"authentischer" Darstellung natürlich nicht fehlen! - schuldbewusst auf die
Brust schlagen und zum Herrn flehen, wird dies zunächst als Bestätigung ihrer
großen Blutschuld gesehen werden. Bezeichnenderweise hat Gibson den mit einer
unheilvollen Wirkungsgeschichte beladenen "Blutruf" von Mt 27,25 doch nicht wie
angekündigt herausgeschnitten, sondern nur nicht untertitelt.
Das Volk
in Jerusalem zeichnet Gibson ebenfalls weithin negativ. Es ist keineswegs
zuvorderst der Pöbel oder eine mit Geld bestochene Menge (wie im "Bitteren
Leiden"), die mit Schmähungen und Handgreiflichkeiten gegen Jesus wütet, sondern
ein breiter Querschnitt der Bevölkerung. Die Jünger Jesu bilden darin ebenso
wenig eine signifikante Gruppe (es sind immer nur die drei Aufrechten, Maria,
Magdalena und Johannes, die den Leidensweg begleiten) wie die möglicherweise aus
Enttäuschung oder Verzweiflung von ihm abgefallenen ehemaligen Anhänger.
Sichtlich Mitleid haben nur einige Frauen, unter ihnen selbstredend "Veronika",
und der recht differenziert angelegte Simon von Cyrene, dessen Mittragen des
Kreuzes, ja förmliches Tragen Jesu, zu den eindringlichsten Momenten des Films
rechnet.
Dramaturgie und Inszenierung
Dass das Zerrbild des Hohen Rats so schwer erträglich ist, hängt auch mit der
Konzentration auf die letzten zwölf Stunden Jesu zusammen. Nachdem keine
"sachdienlichen" Rückblenden vorhanden sind, fehlt auch eine vorbereitende
Konfliktgeschichte, die das Staccato der Anklagen motivieren könnte. Als Gipfel
des Prozesses vor Kaiphas wird zwar die von Jesus positiv beantwortete
Messias-Frage inszeniert, aber zugleich ist klar, dass Jesu "Todesurteil" schon
bei der Gefangennahme festgestanden hatte. Wie im "Bitteren Leiden" wird im Hof
des Hohenpriesters bereits das Kreuz gezimmert, als Jesus dort ankommt. Nur: die
Gründe für all den Hass, der über Jesus hereinbricht, bleiben ganz der Phantasie
oder dem Vorwissen des Zuschauers überlassen.
Ihm traut Gibson überhaupt
einiges an Bibelfestigkeit zu. So wollte er die Geschichte anfangs wie in der
Stummfilmzeit ganz ohne Untertitel erzählen, und es dauerte lange, bis ihm wohl
seine Marketing-Abteilung diese fixe Idee ausgeredet hatte. Wem beispielsweise
die Episode von der Ehebrecherin (hier einmal mehr mit Magdalena identifiziert)
unbekannt ist, der wird Mühe haben, die fragmentierte Rückblende auf sie zu
verstehen; und nur wer sich in den christlichen Legenden gut auskennt, wird die
Ankerpunkte für solche wahrnehmen, die Gibson in seine Erzählung eingelassen
hat: etwa die Bekehrung des Malchus oder die von Pär Lagerkvist
ausgebaute Legende von der späteren Christusnachfolge des Barabbas, die Gibson
allein mit einem intensiven, den Freigelassenen sichtlich "treffenden" Blick
Jesu exponiert.
Aufgrund der ausufernden Darstellung der Grausamkeiten sind die meisten
Charaktere recht flach geraten. Mehr an Tiefenprofil gewinnt durch ihre
intensive Präsenz vor allem die Mutter Jesu (Maia Morgenstern), die
deutlich an die Maria in Franco Zeffirellis Fernseh-Vierteiler "Jesus von
Nazareth" (1976) erinnert. Wie sein Vorgänger zeichnet sie auch Gibson ohne
große Worte als eine von tiefem Wissen um Gottes Heilsplan erfüllte Mater
Dolorosa. Klischeehaft bleiben hingegen die meisten anderen Freunde und auch
Gegner Jesu, etwa der wie gehabt dekadente Herodes Antipas (siehe "Jesus Christ
Superstar"), der nachdenklich werdende Centurio "Abenader" (so benannt nach
Emmerick/Brentano) wie auch Maria Magdalena, die ewig leidende Ex-Sünderin mit
aufgelöstem Haar, und Johannes und Petrus, die neben Judas einzigen aus dem
Jüngerkreis, die überhaupt nennenswert ein "Gesicht" erhalten.
Judas wiederum
ist stark in den Szenen, in denen er vor Schuldgefühlen wahnsinnig wird und sich
erhängt. Doch die in den Evangelien selbst vielstimmig orchestrierte Frage,
weshalb er Jesus verraten habe - für viele Literaten und Regisseure ein Anstoß
zur Entwicklung eines komplexen Charakters - bleibt diffus auf das Motiv der
Geldgier ausgerichtet. Das gibt dann wiederum Gelegenheit, die Hohenpriester
gleich bei ihrem ersten Auftritt nach dem üblen Klischee des "Schacherjuden" zu
exponieren.
Auch der von Jim Caviezel vorgestellte Jesus bleibt bei
allem Leiden wenig einprägsam. In den knappen Rückblenden erscheint er seinen
Zuhörern als netter, sanftmütiger Prediger und seiner Mutter als ein
liebevoller, zu Scherzen aufgelegter Sohn, auf den sie auch von seinem Aussehen
her stolz sein kann. Mit seinem ebenmäßigen Gesicht, gepflegtem Langhaar und der
muskulös-virilen Statur passte er auch sehr gut in Bettina Rheims
"I.N.R.I."-Fotobuch, in seiner Leidensgestalt hingegen auf das Cover einer neuen
Emmerick-Ausgabe (zum Beispiel in jener Großaufnahme, die das Presseheft ziert).
Doch irgendein Charisma, das Jesu Wirkung erahnen ließe, kann Caviezel nicht
entwickeln. Dazu ist er viel zu sehr auf den Leidenskörper reduziert, der weit
mehr durch die seiner Haut eingravierten Wunden sprechen soll, als durch die
wenigen Worte aus seinem schon bald blutig geschlagenen Mund.
Die Kamera ist auf der Höhe der Zeit, vorab was das Action- und
Horrorgenre angeht. Wirklich originelle Bildfindungen sind jedoch selten. Mutig
sind, neben den wiederholten subjektiven Blicken Jesu, die beiden "Gottesblicke"
hinab auf Golgotha: Durch ein Froschaugen-Objektiv aus einer hohen
Vogelperspektive gesehen, wölbt sich der Richtplatz wie zu einem kleinen Globus,
so als wollte damit die kosmische Dimension des Erlösungsgeschehens angezeigt
sein. Gelinde gesagt eigenartig wirkt es dann aber, wenn die Linse
tricktechnisch zu einer Art "Träne Gottes" zusammenschnurrt und eine zweite
Optik die Bahn dieses Tropfens verfolgt, bis er auf der Schädelstätte einschlägt
und das Begleitwunder des Erdbebens auslöst. Noch einmal schwingt sich dann das
"theomorphe" Kamera-Auge in diese erhöhte Perspektive, um von oben den Satan auf
der nunmehr rissigen, verdorrten Erde Golgothas toben zu sehen - weil er seine
Niederlage erkennt, da er das Erlösungsopfer nicht hat aufhalten können.
Nach
all den Schmerzen muss Gibson dann noch ein österliches Fenster öffnen,
und er tut es erfreulich kurz und ohne den sonstigen naturalistischen Gestus:
Nach einem langen Stück Schwarzfilm finden wir uns im Innern der Grabkammer
wieder und sehen den Rollstein langsam den Eingang freigeben. Eben erst scheint
der Leichnam Jesu das Tuch, das ihn auf einer Steinplatte umhüllt hatte,
verlassen zu haben, ist es doch gerade dabei, in sich zusammenzusinken, als es
in den Blick der Kamera kommt. Dann sehen wir vor ihm sitzend, im Profil und
golden und rein leuchtend den Auferstandenen, bis dieser aufsteht und nach
rechts, auf die glücksverheißende Seite, aus dem Grab und aus dem Bild geht.
Reinhold Zwick (geb. 1954) ist Professor für Biblische Theologie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Münster. Mitglied der Katholischen Filmkommission für Deutschland. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Verhältnis von Film und Theologie.